Geschlechtsspezifische Ansätze in der Medizin werden gebraucht, um die speziellen Risikofaktoren von Frauen und Männern separat zu identifizieren und jeweils eine optimale Prävention und Behandlung zu ermöglichen. Die Rolle soziokultureller Faktoren und äußerlicher Einflüsse wird dabei für beide Geschlechter noch unterschätzt.
Das Geschlecht ist nämlich eins der vielen Faktoren, die die Gesundheit von Menschen bestimmen : Männer und Frauen unterscheiden sich sowohl in ihren biologischen Eigenschaften als auch bei ihrer Morbidität. So ist bekannt, dass Herzinfarkte bei Frauen andere Symptome aufweisen als bei Männern, und auch Erkrankungen wie Depression, Asthma und Morbus Alzheimer zeigen erhebliche Geschlechterunterschiede. Nicht immer wird das bei der Diagnose und Behandlung ausreichend berücksichtigt, denn viele medizinische Standards sind an Männern ausgerichtet.
Warum Gendermedizin essenziell bleibt
Bestimmte Krankheiten verteilen sich stark nach Geschlecht und geschlechtsspezifischem Verhalten sowie äußeren Faktoren, wie Stress, Smog-Belastung etc., die damit einhergehen. Brustkrebs zum Beispiel tritt zu 99 Prozent bei Frauen auf - aber auch bei Männern. Frauen leiden außerdem bis zu viermal so oft an Osteoporose, während die Krankheit bei männlichen Patienten oft unentdeckt bleibt. Auch Autoimmunerkrankungen, Allergien und Alzheimer treten bei Frauen vermehrt auf.
Auf der anderen Seite haben die meisten Krebsarten eine höhere Todesrate bei Männern. Zwei von drei Herzinfarktpatienten sind Männer - aber Frauen sterben häufiger daran. Bei Männern ist das Risiko, an Parkinson zu erkranken, doppelt so hoch. Sie sind außerdem anfälliger für Infektionskrankheiten und Diabetes.
Die Konsequenzen von ungleicher Behandlung
Die EURORDIS (Rare Disease Europe) hat zu dieser Thematik eine europaweite Erhebung durchgeführt. Sie kam zu folgendem Ergebnis: Die geschlechtsspezifischen Diskrepanzen auf dem Weg zur Diagnosestellung hatten einen negativen Einfluss auf die Gesundheit der betroffenen Frauen. Durch die verzögerte Diagnosestellung kam es auch zu einer verspäteten Behandlung und Pflege. In vielen Fällen führte dies zu einem raschen Fortschreiten der Krankheit und einer Verschlechterung der Lebensqualität.
Einige Krankheiten teilen sich nach Geschlechtern auf, weil sie mit den Chromosomen zusammenhängen. Die beiden Geschlechtschromosomen unterscheiden sich sehr. Während das X-Chromosom über 1.500 Gene trägt, die Herz, Hirn und Immunsystem beeinflussen, hat das menschliche Y-Chromosom im Lauf der Evolution Gene verloren und trägt nur noch weniger als 100 Gene, mit dem Schwerpunkt Geschlechtsentwicklung und Sexualfunktion. Eigentlich sollte bei weiblichen Zellen eines der beiden X-Chromosomen in allen Zellen inaktiviert werden – möglicherweise eine Strategie der Natur, um Frauen und Männer anzugleichen. Dies geschieht jedoch nur unvollständig, sodass etwa 15 Prozent der Gene des zweiten X-Chromosoms in allen weiblichen Zellen erhalten werden. Dies bedeutet einen biologischen Vorteil für die Frauen – sie haben Reservegene, zum Teil mit Schutzfunktion. Das schützt sie zum Beispiel bei X-chromosomal vererbten Erkrankungen.
Beispiele für geschlechtsspezifische, chromosomale Krankheiten
Im Jahr 2020 wurde eine neue seltene Erkrankung entdeckt, die hauptsächlich beim männlichen Geschlecht auftritt. Die Rede ist vom VEXAS-Syndrom. Hierbei handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, die meist Männer über 50 Jahren betrifft. Der geschlechtsspezifische Unterschied bei dieser Erkrankung liegt in der Genetik: Eine genetische Mutation auf dem X-Chromosom. Symptome sind multiple Entzündungen, die rheumatologischen Krankheitsbildern ähneln, wie auch Fieber, das Sweet-Syndrom oder eine Entzündung des Herzmuskels.
Ein weiteres Beispiel ist das Turner-Syndrom, eine seltene genetische Störung, die nur beim weiblichen Geschlecht auftritt. Die vom Turner-Syndrom betroffenen Mädchen besitzen statt 2 nur 1 normales X-Geschlechtschromosom. Das andere kann teilweise oder auch vollständig fehlen. Zur Symptomatik des Turner-Syndroms zählen Kleinwuchs, Herzfehler, Nierenprobleme, das Ausbleiben der Pubertät sowie Unfruchtbarkeit, Osteoporose, häufige Otitiden bis hin zum Hörverlust.