Ihre Augen sind geschlossen. Behutsam tasten Ihre Finger über die Baumrinde. Welche Strukturen spüren Sie? Ertasten Sie eine rillige Borke oder eine ganz glatte? Fassen Sie in weiches Moos oder sind es schorfige Verletzungen des Gewächses? Riechen Sie etwas, hören Sie vielleicht sogar ein feines Gluckern im Innern des Baumes – oder ist es ein Specht, der oben klopft?
Nein, hier wird kein Baum umarmt. Hier wird auch kein Waldbad genommen. Michael Brosemann versucht mit dieser kleinen Übung im Heilwald von Plau am See in Mecklenburg-Vorpommern Patienten mit neurologischen Erkrankungen gezielt zu helfen. Denn nach einem Schlaganfall beispielsweise leiden viele an sensorischen Einschränkungen.
Im Wald den Tastsinn trainieren
Mit dem intensiven Erkunden von natürlichen Gehölzen und Pflanzen kann der Tastsinn sehr gut trainiert werden, sagt der 43-Jährige. Und nicht nur der Tastsinn wird verbessert. „Wer mit geschlossenen Augen ganz bewusst im Wald vor einem Baum steht, arbeitet auch an seinem Gleichgewichtssinn – und ganz nebenbei ist es auch eine achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“, erklärt der Physiotherapeut, der sich zusätzlich zum Waldtherapeuten hat ausbilden lassen.
Denn er selbst habe immer wieder gespürt, wie wichtig Wald nicht nur für die Erholung ist, zum Runterkommen nach langen, anstrengenden Arbeitstagen. Denn das ist ja längst bekannt und erwiesen, dass ein Waldspaziergang den Stresshormonpegel reduziert sowie Blutdruck und Herzfrequenz senkt.
Kur- und Heilwald in Bad Wörishofen
„Der Wald kann aber noch viel mehr“, beginnt Brosemann zu erzählen und nennt viele Beispiele, wie er mit teils schwer kranken Menschen, die im neurologisch-orthopädischen Rehazentrum vor Ort behandelt werden, im Heilwald von Plau am See arbeitet. Auch Bad Wörishofen im Unterallgäu hat seit Juli einen zertifizierten Kur- und Heilwald.
Doch was ist ein Heilwald? Reicht es nicht einfach, in den nahen Park, den nächstgelegenen Wald mit tollem Baumbestand zu marschieren? Brauchen Bäume jetzt auch schon Zertifikate? Ist das nicht alles doch recht esoterisch angehaucht?
Gisela Immich kennt diese Fragen. Und sie kennt das damit oft verbundene spöttische Lächeln. Immich forscht am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung (IBE) der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Schwerpunkte sind Präventions- und Kurortmedizin sowie europäische Naturheilverfahren, wozu die Waldtherapie gerechnet werden kann.
Vorbehalte gegen Waldtherapie
Leicht hat sie es in diesem Forschungssegment nicht. Während die Waldtherapie in Japan und Südkorea ihren Ursprung nahm und dort längst etabliert sei, „während beispielsweise auch in Großbritannien sogenannte grüne Rezepte für waldtherapeutische Maßnahmen ausgestellt werden, gibt es in Deutschland viele Vorbehalte“.
Auch viele Medizinerinnen und Mediziner halten Waldtherapie und damit natürlich auch Heilwälder „für gspinnertes Gedöns“, sagt sie. Doch Immich will die Kritiker und Zweifler überzeugen. Mit wissenschaftlichen Belegen, mit Studien. Sie forscht vor allem, um die Waldtherapie zu einer evidenzbasierten Medizin zu machen. Einer anerkannten Methode also, die irgendwann auch von allen Krankenkassen übernommen wird.
So darf sich auch nicht jeder Wald „Heilwald“ nennen. Denn prächtige Bäume in verschiedenen Größen und Arten, eine abwechslungsreiche Vegetation, Vogelgesang, ein faszinierendes Lichtspiel, herrliche Düfte und spannende Pfade reichen noch nicht. Zusammen mit zwei Kolleginnen hat Immich einen Zertifizierungskatalog für Kur- und Heilwälder in Bayern erarbeitet.
Voraussetzungen für einen Heilwald
- mindestens sechs Hektargroß
- gut erreichbar und ruhig sein
- muss Therapieplätze, barrierefreie und sichere Pfade bieten
- weitergebildete Therapeuten „mit einer fachlich fundierten Grundausbildung in Gesundheitsfachberufen“ müssen vor Ort Verfahren und Methoden der Waldtherapie durchführen
Krankheitsbilder, bei denen der Wald bewusst als Therapieort eingesetzt und die Heilungschancen damit wissenschaftlich nachweisbar optimiert werden könnten:
- Stressfolgeerkrankungen
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Atemwegserkrankungen
- Schlafstörungen
- psychische Erkrankungen, etwa Depressionen, Angststörungen.
Dabei seien Verbesserungen besonders bei psychischen Erkrankungen bereits evident, wohingegen etwa für Schlafstörungen nur wenig Studien vorlägen. Das zukünftige Indikationsspektrum sei also groß, sagt sie, „jedoch bedarf es guter Studien, um die Evidenz zu belegen“.
Heilwald für kranke Menschen
Wie unterscheiden sich nun aber Heil- und Kurwald? Der Heilwald ist explizit für kranke Menschen, sagt Immich. Es ist ein naturnaher Wald, der gegebenenfalls mit indikationsspezifischer Infrastruktur, etwa Gehtrainingsmöglichkeiten oder Flächen zum Entspannen, ausgestattet sein kann.
Der Kurwald ist ebenfalls ein naturnaher Wald, in dem aber Gesunde oder Stressgeplagte Körper, Geist und Seele einfach Gutes tun wollen.
Vorstellen darf man sich kein eingezäuntes Gebiet. Oft gehen „normaler“ Wald und Heilwald ineinander über. Auch sollten Waldbesitzer und Förster nicht fürchten, dass nun noch mehr wild durchs Geäst trampelnde, ihren Müll hinterlassende Menschen die Wälder stürmen, immer auf der Suche nach Heilung.
Denn erstens würden Kur- und Heilwälder nur mit ausgebildeten Trainern und Therapeutinnen genutzt, betont Immich. Zweites werde gerade bei einer Waldtherapie das Bewusstsein für die erhaltenswerte Schönheit des Waldes gestärkt.
Kneippen im Heilwald Bad Wörishofen

Bad Wörishofen, das traditionsreiche Kurbad, das mit dem Spruch „wo Kneipp zu Hause ist“ wirbt, gehört zu den ersten bayerischen Gemeinden, die nun einen zertifizierten Kur- und Heilwald haben. Professor Dr. Eberhard Volger führt einen aber zunächst an eine andere Stelle in dem schönen Mischwald.
Zu zwei Wasserbecken: Zwei Damen waten sichtlich entspannt durch die eine Kneippanlage, eine jüngere Frau genießt an einem kleineren Becken einen „Espresso des Kneippianers“, das heißt, sie taucht nur kurz ihre Unterarme ins kühle Nass. Der Effekt sei sofort spürbar: Es kribble angenehm unter der Haut, man fühle sich sofort erfrischt.
Volger freut sich, wenn er sieht, wie schon so ein kurzes Kneippbad guttut. Denn er ist nicht nur Internist und Kardiologe und war 25 Jahre Chefarzt der Klinik für Herz-Kreislauf-Erkrankungen der Deutschen Rentenversicherung in Bad Wörishofen. Er ist auch überzeugter Kneippianer und seit Jahren der wissenschaftliche Leiter der Ärztegesellschaft für Präventionsmedizin und klassische Naturheilverfahren, dem Kneippärztebund.
Kneipptherapie passt zur Waldtherapie
Für ihn steht fest: Die Kneipptherapie kann geradezu ideal mit der Waldtherapie verbunden werden. Existiert doch auch ein historisches Foto, etwa von 1870, also aus der Wirkungszeit von Pfarrer Sebastian Kneipp, in dem Menschen in Hängematten zwischen Bäumen im Bad Wörishofer Wald ruhen. Und hebt doch gerade die sogenannte Ordnungstherapie, eines der fünf Elemente der Kneipptherapie, die Bedeutung der Balance zwischen An- und Entspannung, also das Erreichen des seelischen Gleichgewichts, hervor.
In seinen Jahren als Chefarzt hat Volger immer wieder erfahren, wie wichtig ganzheitliche Verfahren in der Medizin sind. „Ich war da am Anfang, als ich 1984 hier nach Bad Wörishofen gekommen bin, auch skeptisch“, räumt er ein, während er ein Stück Richtung Heilwald läuft. „Für unser Gesundheitssystem ist die moderne Medizin mit all ihren diagnostischen und therapeutischen Verfahren unverzichtbar“, sagt er, bleibt kurz stehen und verweist darauf, dass allein schon das Einatmen der Waldluft mit ihren ganz speziellen Duftstoffen unser Immunsystem stimuliert.
Dann fährt er fort: „Es geht nicht um Naturheilverfahren oder Schulmedizin“, das sei kontraproduktiv. „Vielmehr geht es um einen Dialog auf Augenhöhe und die Integration der seriösen Naturheilverfahren in die Medizin, wie sie bereits in vielen Bereichen erfolgreich eingesetzt werden.“ Denn müsse nicht noch mehr dafür getan werden, dass kranken Menschen auch auf natürliche Weise geholfen wird? Mit dem Effekt, dass sie erkennen, wie leicht sie sich selbst helfen können, indem sie die Natur bewusst auf sich wirken lassen, sich in ihr bewegen und sie damit stärker schätzen?
Waldtherapie beeinflusst Immunsystem positiv
„Doch vielen sind selbst die anerkannten Naturheilverfahren einfach zu unspektakulär“, sagt Volger. Dabei zeigten gerade auch die Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie, also des Wechselspiels zwischen Seele, Gehirn, Immun- und Hormonsystem, wie sehr die Stressreduktion infolge der Waldtherapie das Immunsystem positiv beeinflusst. Auch hat die Weltgesundheitsorganisation den Stress mit seinen Folgeerkrankungen zum größten Gesundheitsproblem des 21. Jahrhunderts erklärt.
Volger läuft weiter und zeigt auf eine wunderbare Lichtung. Dort könnten beispielsweise Patienten mit einer Therapeutin arbeiten. 111 Hektar umfasst der Kur- und Heilwald in Bad Wörishofen. Sechs Therapieplätze gibt es. Ganz unauffällig sind sie alle. Ganz naturbelassen. Zwei ausgebildete Waldtherapeutinnen bieten Führungen und therapeutische Maßnahmen an. Im Kompetenzzentrum für Waldmedizin und Naturtherapie kann man sich ausbilden lassen. Geschäftsführerin Ute Ammerpohl will ebenfalls mehr Seriosität in die Waldtherapie bringen: mit einer fundierten Ausbildung. (AZ)