Kaum sinken die Temperaturen, geht es bei Anja Baumann wieder los: Ihre Finger werden pelzig und gespenstisch weiß. Ein Schmerz wie von tausend Nadelstichen jagt durch ihre Hände. Mit eisig kalten und tauben Fingern fällt es ihr schwer, mit dem Schlüssel die Haustüre aufzusperren, Geld aus dem Geldbeutel zu nehmen oder einen Reißverschluss zuzumachen – von Feinmotorik ganz zu schweigen.
Die 49-Jährige leidet am Raynaud-Syndrom, das umgangssprachlich als Weißfingerkrankheit oder „Leichenfinger“-Syndrom bezeichnet wird. Ein Phänomen, das sehr schmerzhaft und unangenehm, aber oft auch harmlos ist. In manchen Fällen können die Symptome jedoch auch auf ernste Krankheiten hinweisen.
Finger auch im Sommer kalt
„Manchmal ist es so schlimm, dass mir richtig schlecht wird“, erzählt Baumann. „Ich habe dann das Gefühl, dass ich mich übergeben muss.“ Vor allem wenn die 49-Jährige Wintersport wie zum Beispiel Skitouren macht, tritt das Syndrom auf.
„Solange ich in Bewegung bin, geht es.“ Aber sobald sie stehen bleibt, sagt sie, „frieren die Finger ein.“ Auch im Sommer, wenn sie nach dem Sport nicht sofort duscht oder wenn sie nur ein kaltes Lenkrad anfasst, bekommt sie „Leichenfinger“. „Mir kommt es vor, als würde der Körper meine Hände einfach nicht mehr mit Blut versorgen – als ob sie tot sind.“
Es gibt zwei Arten der Erkrankung, sagt Gefäßchirurg Professor Dr. Alexander Hyhlik-Dürr vom Universitätsklinikum Augsburg. Das primäre Raynaud-Syndrom – an dem Anja Baumann leidet – ist eine „anfallsweise auftretende Minderdurchblutung durch eine Gefäßverengung“.
Etwa fünf Prozent der Bevölkerung sind seinen Angaben nach davon betroffen. Vor allem trete das Phänomen bei jungen Frauen in nordeuropäischen Ländern auf. In Südeuropa gebe es dagegen kaum Menschen, die darunter leiden.
Veranlagung zu Weißfingerkrankheit wird vererbt
Warum und wie diese Art der Weißfingerkrankheit entsteht – dafür gebe es bisher noch keine wissenschaftliche Erklärung, sagt Hyhlik-Dürr. Möglicherweise spielt Vererbung eine Rolle. So leiden auch Baumanns Bruder und ihre Nichte daran.
Fest steht: Bei Stress und Kälte ziehen sich bei Betroffenen die kleinen Arterien in den Händen teilweise auch in den Füßen krampfartig zusammen. Folglich fließt weniger Blut durch die Gefäße, die Finger werden wie bei Anja Baumann weiß und fühlen sich taub an. Wenn die Durchblutung sich wieder normalisiert und das Blut adäquat zirkuliert, können stechende Schmerzen auftreten, sagt der Professor. „Nägeln“ nennt Baumann das und sagt: „Das ist kaum auszuhalten.“
Das primäre Raynaud-Syndrom ist zwar unangenehm, aber unbedenklich, erklärt Mediziner Hyhlik-Dürr. Die Gefäße sind gesund, reagieren nur auf äußere Faktoren empfindlicher als normal. „Die Haut geht dabei nicht kaputt und es entstehen meist keine bleibenden Schäden.“
Andere Form der Weißfingerkankheit
Anders ist es beim sekundären Raynaud-Syndrom. Die Symptome sind ähnlich, doch hierbei gibt es eine Ursache, die auf eine ernste Erkrankung hindeuten kann. Je älter man wird, desto vorsichtiger sollte man werden. Denn nach Angaben von Hyhlik-Dürr werden die Gefäße im Alter weniger agil und ziehen sich nicht mehr so gerne zusammen. Die primäre Erkrankung trete bei älteren Menschen also normalerweise nicht auf.
Auslöser für das sekundäre Syndrom gebe es viele, sagt Hyhlik-Dürr. Zum Beispiel können Gefäßentzündungen Arterien verenden oder verstopfen, wodurch die sogenannten „Leichenfinger“ entstehen. Bluterkrankungen, Medikamente wie Beta-Blocker oder die Anti-Baby-Pille, aber auch ein Handgelenkbruch können die Weißfingerkrankheit ebenfalls auslösen.
Gefäßschädigungen durch Erfrierungen oder äußere Einwirkungen, zum Beispiel durch dauerhafte Vibration, können sich ebenfalls in dem Phänomen äußern. Wer häufig mit einem Presslufthammer oder einer Bohrmaschine arbeitet, hat beispielsweise ein höheres Risiko, das Syndrom zu entwickeln.
Art der Weißfingerkrankheit beim Arzt klären lassen
Professor Hyhlik-Dürr rät: Erst bei einem Arzt abklären, von welchem Typ man betroffen ist. Während die Behandlungsmethoden beim sekundären Phänomen entsprechend der Ursachen sehr vielfältig sind, ist das primäre nicht heilbar. Zwar gibt es Medikamente, die die Gefäße weiten und die sogenannten Spasmen der Arterien verhindern. Doch dieses sollte nur in extremen Fällen dauerhaft eingesetzt werden.
Patientinnen und Patienten, die an dem primären Typ leiden, sollten extreme Kälte-Expositionen verhindern, immer Handschuhe tragen und den Kreislauf durch Bewegung in Schwung halten, empfiehlt Hyhlik-Dürr. Der Spezialist rät zum Verzicht auf Zigaretten. „Rauchen zieht die Gefäße zusammen und verschlimmert die Krankheit.“
Hilfen gegen Weißfingerkrankheit im Alltag
Anja Baumann hat ihre eigenen Methoden entwickelt. So nimmt sie zu jeder Skitour mindestens drei Paar Handschuhe mit, damit sie immer eine trockene und warme Reserve hat. Auch der „Hubschrauber“ helfe manchmal. Dabei kreist sie ihren Arm möglichst schnell, sodass das Blut in die Finger strömt. Auch mit Wärmekissen hat sie gute Erfahrungen gemacht.
Trotzdem habe sie noch keine wirklich gute und langfristige Lösung gefunden. Bei jeder Aktivität im Winter tritt die Weißfingerkrankheit bei ihr auf. Je kälter es ist, desto schlimmer. Obwohl das Syndrom sie teilweise einschränkt, würde sie nie auf Wintersport verzichten. „So nervig es auch ist, das Freizeitvergnügen überwiegt.“ Zumindest gibt es Hoffnung, dass die Attacken mit zunehmendem Alter weniger werden oder ganz aufhören. (AZ)