Es gibt diesen einen Satz, den Veronika Klinger immer wieder hört: „Du bist doch ein junges Mädel.“ In diesem Satz schwingt die Aussage mit, dass da irgendetwas nicht zusammenpasst – dass da irgendetwas nicht den Erwartungen entspricht, die man an junge Menschen hat.
Denn mit 27 Jahren ist Veronika Klinger, die in Augsburg lebt, ja tatsächlich noch jung. Und doch gibt es etwas in ihrem Leben, das viele Menschen eben nicht mit einem „jungen Mädel“ in Verbindung bringen: schmerzende und geschwollene Gelenke, starke Medikamente, regelmäßige Arztbesuche und Reha. Veronika Klinger hat Rheuma.
Rheuma – eine Krankheit, bei der die meisten zunächst an Ältere denken. An Arthrose in den Handgelenken, an künstliche Knie oder künstliche Hüften. Dabei können rheumatische Erkrankungen alle Altersgruppen betreffen.
So fängt Rheuma an
Bei Veronika Klinger, die aus dem Münchner Umland kommt, fing es mit geschwollenen Knöcheln an. Dann taten ihr die Hände weh. Im Sommer 2018 brach die Krankheit schließlich aus. Klinger steckte damals noch in einem dualen Studium, pendelte zwischen Wohn- und Arbeitsort. Ihre Diagnose bekam sie mehr oder weniger zufällig, als sie nach einer Knie-Operation Physiotherapie erhielt. Ihr Therapeut schickte sie nach einem Blick auf ihre Gelenke zum Rheumatologen.
„Ich hatte so Schmerzen in den Händen, dass ich nicht mehr Auto fahren konnte und es mir nicht mehr zugetraut habe“, sagt sie. „Es kam so plötzlich.“ Selbst zu laufen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war zeitweise eine Qual.
Das ist inzwischen nicht mehr so, auch nicht an diesem Tag, an dem sie mit ihrer Mischlingshündin Fanny unterwegs ist. Gassigehen im Park. Dass Veronika Klinger auf Tabletten angewiesen ist, die ihre Schmerzen lindern sollen? Dass sie seit ihrer Kindheit auch unter Morbus Crohn, einer chronischen Darmkrankheit, leidet? All das sieht man ihr nicht an. Erst recht nicht die Schmerztabletten im Verborgenen ihrer Tasche. „Ich verlasse das Haus eigentlich nie ohne“, sagt sie.
Vorwarnung für Rheuma
Einst wurde ihr gesagt, dass Morbus-Crohn-Patienten anfälliger für Rheuma seien. Eine Vorwarnung, die zwar im Raum stand, im Alltag mit einer anderen chronischen Erkrankung aber in den Hintergrund rückte. Für die Rheuma-Therapie musste Klinger ihre Morbus-Crohn-Medikamente absetzen.
Das spürte sie in zweierlei Hinsicht: Einerseits dauerte das Absetzen, andererseits fehlten ihr die Tabletten für die Darmerkrankung. „Andere bekommen ihre Diagnose und dann das Medikament, ich musste erst einmal vier Wochen lang warten“, erklärt sie.
Worte einer jungen Frau, die Leid transportieren, aber kein Mitleid suchen. Veronika Klingers Stimme ist hell und offen. Man merkt ihr an, dass sie sich viele Gedanken gemacht hat. Und dass sie von sich erzählen will – um anderen ein wenig zu helfen.
Keine Statistik zu jungen Rheumakranken
Wie viele junge Menschen im Alter von 18 bis 35 Jahren in Deutschland unter Rheuma leiden, ist statistisch nicht erfasst. „Es ist extrem schwer, hier konkrete Zahlen zu nennen“, sagt Kirsten Minden, Professorin und Expertin der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie vom Deutschen Rheuma-Forschungszentrum in Berlin.
Um eine grobe Vorstellung davon zu erhalten, wie viele es sein könnten, schätzt sie, basierend auf Daten zweier Studien, dass etwa 200.000 junge Menschen in Deutschland von chronischen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen betroffen sein könnten. Zum Vergleich: Insgesamt sind es in Deutschland rund 1,5 Millionen Erwachsene und etwa 20.000 Kinder unter 18 Jahren.
So äußert sich Rheuma
Doch wie äußert sich Rheuma überhaupt? Streng genommen gibt es die „Diagnose Rheuma“ nicht. Der Begriff umfasst rund 100 verschiedene Erkrankungen – im Fachjargon: Krankheiten des rheumatischen Formenkreises.
„Sie alle äußern sich in chronischen Schmerzen, können aber ganz unterschiedliche Körperbereiche betreffen“, erklärt die Deutsche Rheuma-Liga. Die Ursache für rheumatisch-entzündliche Erkrankungen wie chronische Gelenkentzündungen: „Das Immunsystem greift den eigenen Körper an – Gelenke und Sehnen, Haut und anderes Körpergewebe, manchmal sogar innere Organe.“
Und die Schmerzen, die die Krankheit verursacht, greifen wiederum die Psyche an. Veronika Klinger war erschöpft und müde, hatte kaum noch Energie. „Es zuzugeben, dass man es mit 25 Jahren körperlich nicht hinbekommt, das Bad zu putzen, will man in diesem Alter nicht wahrhaben“, sagt sie. Sie schaffte den Haushalt nicht mehr, fehlte immer häufiger in der Uni, kam mit dem Stoff nicht mehr hinterher. Sogar ihre Beziehung stand zwischenzeitlich auf der Kippe.
Weil ihr Freund beruflich an einem anderen Ort eingespannt war, sahen die beiden sich nur an Wochenenden in der gemeinsamen Wohnung. „Wenn er unter der Woche weg war, wollte ich ihm am Telefon nichts vorjammern“, sagt sie.
Als er an den Wochenenden daheim war, freute sie sich – und versuchte, ihm eine heile Welt vorzuspielen. Wie es unter der Woche wirklich war, erfuhr er nur in Gesprächen mit ihrer Mutter. Eine schwierige Situation. „Er wusste nicht, wie er mir helfen kann“, sagt Veronika Klinger. „Er kannte mich aktiv, und nicht so.“
Rheumaschmerzen machen mürbe
Sie hilflos, voller Schmerzen. Er hilflos, im Schmerz um sie. Die Krankheit belastete ihre Partnerschaft und das belastete Veronika Klinger – ein Teufelskreis.
Sie weinte viel und dachte sich: „Man ist ein junges Mädel. Man hat so viel vor. Und dann kann man noch nicht mal seinen Alltag richtig meistern?“
Zu den Schmerzen kam psychischer Stress. „Ich war in einem Zwiespalt. Einerseits fragte ich mich, warum trifft’s denn ausgerechnet mich? Am anderen Tag dachte ich mir: Es gibt Leute, denen geht es viel schlechter und die jammern nicht so herum.“ Klinger suchte sich Hilfe beim Psychologen.
In einer Studie der Deutschen Rheuma-Liga mit 191 jungen Rheumatikern zwischen 18 und 35 Jahren hatte fast jeder Dritte angegeben, im Laufe seiner Erkrankung in psychotherapeutische Behandlung zu gehen.
Bei Rheuma auch psychologische Hilfe
Klinger lernte, dass es in Ordnung ist, nach Hilfe zu fragen und sich einzugestehen, dass sie viele Dinge nicht mehr so wie früher schafft. Was ihr im Alltag nach wie vor Probleme bereitet: Ihre Krankheit ist mehr oder weniger unsichtbar. Kein Gips, keine Krücken – die Schmerzen sind da, auch wenn sie auf den ersten Blick gesund aussieht.
Dass sie Termine oder Verabredungen spontan absagen muss, trifft im Freundeskreis und auf der Arbeit häufig auf Unverständnis. Sie hat den Entschluss gefasst: „Ich rechtfertige mich nicht mehr. Viele verstehen es einfach nicht, wenn man es nicht selber erlebt hat.“
Ein halbes Jahr verging zwischen den ersten Symptomen und der Diagnose bei ihr. Wie genau die Versorgungslage für junge Rheumatiker und Rheumatikerinnen ist, ist laut der Studie der Deutschen Rheuma-Liga bisher nur wenig erforscht. Bei drei von vier Befragten zwischen 18 und 35 Jahren dauerte es über drei Monate ab Symptombeginn bis zur Diagnose. Bei der Hälfte der bis 17-Jährigen waren es dagegen unter drei Monate.
Spezialisten für Rheuma in der Kindheit
Während es für Schulkinder Kinder- und Jugendrheumatologen gibt, besteht bei jungen Erwachsenen die Gefahr, dass sie in eine altersbedingte Lücke fallen: Sie sind zu alt für die Kindermediziner und eher eine Ausnahme in den meisten rheumatologischen Praxen, die eben überwiegend ältere Patientinnen und Patienten betreuen. Für viele Betroffene ist es eine Herausforderung, Ärzte und Ärztinnen zu finden, die auch auf die Bedürfnisse von jüngeren Patienten eingehen.
Klingers Situation besserte sich durch Medikamente, einen Reha-Besuch und die Unterstützung ihrer Familie. In der Reha wurde sie über die Selbsthilfeorganisation Deutsche Rheuma-Liga auf die „Jungen Rheumatiker München“ aufmerksam: eine Gruppe Betroffener im Alter von 18 bis 35 aus dem Münchner Speckgürtel. 45 junge Rheumatikerinnen und Rheumatiker halten über eine WhatsApp-Gruppe Kontakt, tauschen sich bei Treffen aus, wenn akute Hilfe notwendig ist.
Annika Hartdegen ist stellvertretende Landesjugendsprecherin der Rheuma-Liga. Sie sagt: „Jedes Thema darf auf den Tisch kommen. Viele Teilnehmer melden zurück, dass sie nur in einem Austausch mit Gleichbetroffenen rheumatische Themen ansprechen können und vollständiges Verständnis erhalten – für chronische Erschöpfung, für Ärger über Ärzte, Erfahrungen mit Medikamenten, Stress mit Therapieterminen und so weiter.“
Selbsthilfegruppe hilft bei Rheuma
Veronika Klinger hilft der Austausch über Probleme, die sonst niemand in ihrem Umfeld hat. „Und man ist nicht alleine“, sagt sie. „Es tut gut zu wissen, dass es auch anderen in meinem Alter so geht.“ Und sie wolle ehrlich sein – da gebe es noch einen anderen Aspekt, der eine Rolle spiele. „Es mag böse klingen. Aber im Kontakt mit anderen sehe ich auch, dass es mir schlechter gehen könnte“, sagt sie. „Es zeigt mir, dass ich über die Situation, wie es mir gerade geht, froh sein kann.“ Ihr ist bewusst, dass es aber auch andersherum sein könnte.
Mittlerweile kann Klinger ihren Alltag mehr oder weniger so bewältigen, wie es ihren Vorstellungen entspricht. Sie beendete ihr Studium, ließ sich ein Jahr lang mehr Zeit für das Examen. Ihr Freund ist weiter an ihrer Seite. Mischlingshündin Fanny begleitet sie seit anderthalb Jahren durchs Leben.
„Mit ihr muss ich mich bewegen, auch wenn es mir nicht gut geht. Und ich kann mich psychisch auf sie konzentrieren statt auf mich“, sagt Klinger. Anstelle von Vollzeit arbeitet sie in ihrem Beruf als Beamtin Teilzeit. Eine Tatsache, die ab und zu auf Verwunderung stoße. Viele erwarteten, dass der Grund für eine Frau, die in Teilzeit arbeite, Kinder seien.
Was sich Veronika Klinger wünscht, ist mehr Verständnis: „Rheuma ist eine Krankheit, die man nicht sieht. Viele Leute verstehen die Schmerzen oder die Einschränkungen nicht.“ (AZ)