Mit einer Rasierklinge schlitzt sie sich Arme und Oberschenkel auf. Immer und immer wieder. Und sie schneidet richtig tief. Stets müssen die Verletzungen genäht werden. Doch sie konnte damit nicht aufhören, erzählt sie. „Ich brauchte diese Stille. In meinem Kopf war so viel drin, da war es so wahnsinnig laut - den Schmerz empfand ich als erlösend.“ Schon vor den Selbstverletzungen begann sie zu hungern. Wenn man die 17-Jährige heute fragt, wann ihre Erkrankung begonnen hat, dann sagt sie, vor etwa sechs Jahren. Auch eine Depression kam dazu.
Die junge Frau, die ihren Namen nicht öffentlich machen will, ist kein Einzelfall. Immer mehr Heranwachsende in Bayern sind psychisch so krank, dass sie professionelle Hilfe brauchen. Das hat der Barmer Arztreport 2021 ergeben. Demnach ist die Zahl der jungen Patienten im Freistaat innerhalb von elf Jahren um etwa 90 Prozent gestiegen. Sozialer Stress und wachsende Leistungsanforderungen werden von der Krankenkasse als mögliche Gründe für die deutliche Zunahme angegeben. Corona habe die Situation noch ein Stück weit verschärft. Und es sind nicht nur die Kinder und Jugendlichen, die bei einer Erkrankung leiden, auch die Eltern benötigen oft Hilfe.
Eine Elterngruppe hilft
Die Mutter des 17-jährigen Mädchens hat Unterstützung in einer Elterngruppe gefunden. Der Landesverband Bayern der Angehörigen psychisch Kranker hat es sich zur Aufgabe gemacht, Betroffene zu beraten, ihnen zu helfen und sie zu vernetzen. Vor allem der Austausch mit Eltern, deren Kind ebenfalls psychisch erkrankt ist, hilft der Mutter. Denn wer mit der 46-Jährigen spricht, begreift schnell, wie belastend die Situation gerade auch für die Eltern ist. „Man geht durch so tiefe Täler, das kann man sich gar nicht vorstellen“, sagt sie. Schließlich mache man sich als Eltern schwerste Schuldvorwürfe, kreise immer wieder um die Frage: Was habe ich falsch gemacht?
Lange hat die Mutter gehofft, dass sich die Situation normalisiert, dass vieles vielleicht mit der Pubertät zu tun hat. War ihre Tochter doch stets ein „Bilderbuchkind“ mit besten Schulnoten. Doch als sie die schweren Selbstverletzungen entdeckt, ist ihr sofort klar, ihre Tochter braucht Hilfe. Zumal sie heimlich im Tagebuch ihrer Tochter liest und dort vor Augen hat, mit wie viel tiefer Dunkelheit und Schmerz ihre Tochter kämpft, „das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen, ich hatte solche Angst, dass sie sich etwas antut“.
Wartezeiten sind lang
Doch schnell gute Hilfe zu finden, sei eine Herkulesaufgabe, erzählt die Mutter. Die Wartezeiten auf Therapien, die Wartezeiten bei Psychiatern seien lang. Und bis man wirklich einen Platz findet, verginge zu viel Zeit. Das bestätigt auch eine andere Mutter. Auch sie hat sich beim Landesverband Bayern der Angehörigen psychisch Kranker Hilfe geholt. Die 54-Jährige ist längst selbst seelisch krank, leidet an Depressionen. Von ihrem Mann trennt sie sich gerade. Ihre gesunde 15-jährige Tochter hat sie vorübergehend in eine Pflegefamilie gegeben, zu lange war diese ein Schattenkind, Schwester eines psychisch schwer erkrankten Bruders, der die ganze Aufmerksamkeit seiner Eltern fordert.
Dabei merkt die Mutter früh, dass ihr Sohn anders ist. Hochintelligent, aber auch hochsensibel. Extrem reizbar. Schon in der Grundschule kontaktiert sie einen Schulpsychologen, ihr Sohn wird offensichtlich gemobbt - trauriger Höhepunkt war, als er elf Jahre alt war. Ein Schulkamerad schubst ihn vor die U-Bahn. So erzählten es zumindest die anderen Kinder, die dabei waren. Passiert ist zum Glück nichts. Doch die Eltern erfahren von dem tragischen Vorfall nur von Klassenkameraden - ihr Sohn schweigt über den Vorfall bis heute. Heute ist er 17.
Es wurde immer schlimmer
Der Junge entwickelt eine massive Angststörung, verlässt nur noch für den Schulunterricht das Elternhaus, kapselt sich komplett ab. Es kommen Therapeuten, es folgen Psychiatrieaufenthalte. Mittlerweile wurde bei ihm eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Aus einer therapeutischen Wohngruppe ist er jetzt rausgeflogen. „Er trinkt im selbstzerstörerischen Maß Alkohol“, erzählt seine Mutter offen, die nun allein mit ihrem schwer kranken Sohn lebt. Er ist zwar wieder in einer Psychiatrie angemeldet, doch auf den Platz müsse er warten.
Dass auch in Schwaben die Nachfrage nach Plätzen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowohl im stationären wie im ambulanten Bereich das Angebot übersteigt, bestätigt Dr. Christian Voigt, Obmann der Kinder- und Jugendärzte in Augsburg und Nordschwaben. Das sei schon vor Corona so gewesen und habe sich durch die Pandemie verstärkt. Er schätzt, dass es aufgrund der Pandemie zu einer Zunahme an psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen um etwa 20 Prozent gekommen ist.
Niemand wird allein gelassen
Doch stimmt es, was Dr. Jakob Maske vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, sagt? Er erklärt: „Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind voll, dort findet eine Triage statt. Wer nicht suizidgefährdet ist und,nur‘ eine Depression hat, wird gar nicht mehr aufgenommen.“ Professorin Michele Noterdaeme ärgert diese Aussage massiv. „Weil sie so nicht stimmt“, sagt die Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Josefinum in Augsburg und ergänzt: „Ja, wir erleben bedingt durch Corona einen noch nie da gewesenen Zulauf. Auch unser Haus ist sehr voll, und für den stationären Bereich gibt es Wartelisten. Aber wir nehmen seit der Pandemie auch über unsere normale Kapazität auf. Und vor allem: Wir lassen niemanden allein.“
Rund um die Uhr könnten sich Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen in der Notaufnahme des Josefinums vorstellen. Keiner werde abgelehnt. „Und alle akuten Erkrankungen nehmen wir sofort stationär auf“, sagt Noterdaeme. Zu diesen Fällen zählten etwa Kinder und Jugendliche mit einer schweren Depression, einer schweren Essstörung oder einer Suizidgefährdung. Aber nicht jeder müsse eben sofort in die Klinik, auch wenn sich das die Eltern oft wünschten. Die Ärzte vor Ort entscheiden, ob ein sofortiger stationärer Aufenthalt nötig ist oder ambulante Hilfe momentan ausreicht. „Es erhält aber jeder von uns ein Behandlungsangebot“, betont Noterdaeme. Und es stimme zwar, dass Bayern zu den Bundesländern gehört mit den geringsten Bettenkapazitäten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Bayern stockt aber auf. Auch wir im Josefinum erhalten bald mehr Betten.“
Mehr Aufklärung
Doch die beiden betroffenen Mütter wünschen sich vor allem auch einen offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen. „Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig“, sagt die 54-Jährige, die aber auch bessere Anlaufstellen speziell für psychisch kranke Kinder und Jugendliche fordert. Die Mutter der 17-Jährigen leidet unter der starken Stigmatisierung psychischer Erkrankungen: „Man hat noch immer das Gefühl, man muss sich für eine psychische Erkrankung schämen.“ Sie kann anderen betroffenen Eltern nur raten, sich eine Selbsthilfegruppe zu suchen. „Denn Freunde wissen oft einfach nicht, wie man mit so einer Situation umgeht.“ Nicht wenige ziehen sich zurück. Wenn es ihr ganz schlecht gegangen ist, hat sie bei der Telefonseelsorge angerufen. „Das hat mir in den Momenten einfach geholfen, weil ich nicht allein war, weil mir jemand gesagt hat: Ich bin für dich da!“ Aber auch zu arbeiten, gab ihr einen gewissen Halt.
Vorbei ist der Leidensweg ihrer Tochter noch lange nicht. „Ich weiß, das kann noch Jahre gehen. Ich weiß, es können immer wieder Rückschläge kommen, und ich weiß nie, was als Nächstes passiert.“ Die eigene Machtlosigkeit zu akzeptieren, das sei ein harter, aber sehr wichtiger Schritt für Eltern: „Ich habe lernen müssen zu akzeptieren: Es ist nicht meine Aufgabe als Mutter, mein Kind zu heilen. Das kann ich selbst nicht.“
Doch ihre Tochter selbst spricht mittlerweile offen von ihrer Erkrankung. Und vor allem lässt sie sich helfen. „Ich hatte lange einfach nicht das Gefühl, Hilfe zu brauchen“, sagt die junge Frau. (AZ)
Hilfe: Der Landesverband Bayern der Angehörigen psychisch Kranker e. V. bietet Unterstützung. Erreichbar ist er telefonisch in München unter 0 89/51 08 63 25; E-Mail: info@lapk-bayern.de; Homepage: www.lapk-bayern.de
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