Herr Miltenberger, Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Mut ist Angst plus ein Schritt“, dass es mehr als zehn Millionen Angsterkrankte in unserem Land gibt. Was waren Ihre drei schlimmsten Angstereignisse?
Mischa Miltenberger: Ich habe keine fernsehtaugliche Hitliste aufgestellt. Mir ging es in den 20 Jahren Leidenszeit so wie vermutlich den meisten Angstpatienten: Jede einzelne Panikattacke fühlte sich grausam an - samt Herzrasen, Schweißausbrüchen, Hyperventilieren und Zittern. Alles in mir hat geschrien: „Jetzt musst du sterben“. Ich dachte tatsächlich manchmal, dass so ein Leben nicht mehr lebenswert ist. Zum Glück war der Sunnyboy in mir anderer Meinung und hat immer noch ein wenig Licht in den dunkelsten Stunden gesehen.
Sie haben bis zu drei Psychopharmaka am Tag genommen. Wogegen sollten die im Einzelnen wirken und welche Nebenwirkungen haben Sie verspürt?
Miltenberger: Die Medikamente sollten wahlweise meine depressive Stimmung heben, mich beruhigen, meine Angst senken, mir Antrieb verschaffen oder mich leichter einschlafen lassen. Die Nebenwirkungen waren unter anderem: 15 Kilo Gewichtszunahme, Schwindel, Magenbeschwerden, sexuelle Unlust - und während der gesamten zehn Jahre ein Gefühl, nicht ich selbst zu sein. Heruntergeregelt, irgendwie wie in Watte gehüllt. Wie surreal das war, habe ich erst festgestellt, als ich alle Psychopharmaka samt Blutdruck- und Asthmamittel abgesetzt habe.
Die Medikamente bekamen Sie während Ihrer ersten depressiven Episode verschrieben, als Sie ein Jahr in Ihrem früheren Job als Sportredakteur gearbeitet haben. Trotzdem dachten Sie auch danach jahrelang, das sei Ihr Traumjob. Wieso haben Sie sich so viele Jahre darin getäuscht?
Miltenberger: Weil ich nie gelernt hatte, auf mein Bauchgefühl zu hören. Das schrie schon nach ein paar Wochen „Raus hier!“. Denn von meinen wichtigsten Veranlagungen her - sensibel und zugleich mit ordentlichem Revoluzzer-Gen ausgestattet - passe ich nullkommanull in hierarchische Konzernstrukturen mit Stress, Anweisungen, Meetings und Diskussionen um Urlaubs- und Brückentage. Trotzdem war Sportredakteur zu Beginn definitiv mein Traumjob. Ich konnte mir vom Verstand her damals nichts anderes als ein Angestellten-Leben vorstellen. Mein Herz und mein Körper schon.
2014 haben Sie nach einem Klinikaufenthalt Ihre Festanstellung gekündigt und sind monatelang mit einem alten VW Bus durch Europa gefahren. Das würden bestimmt viele gern machen. Wie haben Sie das finanziert?
Miltenberger: Ich hatte mir in den zehn Jahren Festanstellung Geld angespart. Doch genau genommen geht es nicht ums Geld, sondern um eine Entscheidung: Ich höre auf meinen Körper, mache die nötigen Dinge, die jetzt dran sind - und bin auch bereit, den Preis dafür zu zahlen. Ich habe viele Menschen getroffen, die deutlich mehr verdient oder gespart haben als ich, und sich so etwas trotzdem nicht trauen würden. Die richtige Frage lautet: Wie viel Vertrauen habe ich in mich und das Leben? Wie viel Risiko bin ich bereit einzugehen?
Dann sind Sie heimgekehrt und führen seitdem ein ganz anderes Leben als Selbstständiger - schreiben Bücher, geben Seminare. Sie haben Ihre Angsterkrankung im Griff. Erklären Sie bitte, wie Sie das genau geschafft haben.
Miltenberger: Die Angst bestimmt nicht mehr meinen Tagesablauf und alle wichtigen Entscheidungen, weil ich es aufgegeben habe, etwas im Griff haben zu wollen. Ich habe verstanden, dass ich die Angst weder bekämpfen noch unter Kontrolle halten kann. In dem Moment, als ich den Kampf gegen die Angst aufgegeben habe, hat sie sich von selbst zurückgezogen. Ich erlaube mir heute, vor gewissen Dingen immer noch Angst zu haben. Mir hat nach dem jahrzehntelangen Versteckspiel meine gnadenlose Offenheit sehr geholfen: Ja, ich habe manchmal Angst. Ja, das darf so sein.
Sie beschreiben, dass Panikattacken - anders als in der medizinischen Literatur oft skizziert - nicht unbedingt nach 15 bis 30 Minuten abklingen. Wie lange dauerte Ihre längste Panikattacke?
Miltenberger: Jetzt darf ich doch in meiner Hitliste nachschauen: Bei mir waren es satte drei Stunden. Ein Flug von Lissabon nach München - durchgehend Todesangst. Und ich habe Menschen getroffen, die mir von ganztägigen Panikattacken berichtet haben.
Sie kritisieren in Ihrem Buch die Konfrontationstherapie, die von vielen Therapeuten angewandt wird.
Miltenberger: Wenn sie von so vielen Therapeuten angewendet wird und immer noch Millionen von Menschen mit Panikattacken zu tun haben, stimmt etwas nicht. Natürlich ist es notwendig, sich irgendwann den angstbesetzten Situationen zu stellen. Doch vorher braucht der Angstpatient eine Basis.
Muss seine Angst verstehen und was sie mit seinem Leben zu tun hat. Darf lernen, seinen Selbstwert zu steigern, seine Stressauslöser zu verringern und seine Angst zu akzeptieren, anstatt blind gegen sie anzurennen. Viele Patienten leiden nämlich noch mehr, wenn sie das vom Therapeuten gesteckte Konfrontationsziel nicht schaffen. Sie fühlen sich als Versager. Ich habe das 2013 am eigenen Leib erfahren, als ich monatelang in jeder Morgenkonferenz eine Panikattacke hatte. Mein Therapeut hatte mir geraten, mich immer wieder damit zu konfrontieren ...
Ein Credo von Ihnen lautet: Tun statt reden überschreibt unsere unbewussten Programme, auch unsere Angstprogramme. Was raten Sie jemandem, der an einer Angsterkrankung leidet?
Miltenberger: Ganz sicher werde ich ihm sagen, dass ich kein allgemeines Rezept für oder gegen Angsterkrankungen habe. Ich habe so viele unterschiedliche Sachen gehört, wie Menschen einen Weg aus ihrer Panik gefunden haben. Eine Sache verbindet sie allerdings: Sie haben irgendwann verstanden, dass Angst nicht vom Himmel fällt und sie damit kein willkürliches Opfer sind. Was da passiert, hat etwas mit ihrem Leben zu tun.
Es geht darum, das eigene Leben radikal ehrlich anzuschauen, anstatt sich etwas vorzumachen. Ganz bewusst in die Stille zu gehen und in sich hineinzuhorchen: Was will ich denn wirklich vom Leben? Und vor allem geht es darum, mehr Frieden in die Beziehung mit mir selbst zu bekommen und nach und nach die alten Wunden, meist aus der Kindheit, zu heilen. Die kleinen und großen mutigen Schritte im Außen kommen dann ganz von allein.